Der Schleusenwärter kneift die Augen zusammen. Irgendwas Großes treibt im Rhein-Herne-Kanal. Aber er kann nicht erkennen, was es ist. Es ist kurz vor sechs an diesem Donnerstagmorgen des 28. August 1930. Schalke schläft nicht, Schalke schläft nie. Tief unten ist die Frühschicht schon wieder am Schaffen. Die Kumpel aus der Nachtschicht suchen noch den Weg ins Bett. Und doch fühlt sich der Schleusenwärter gerade sehr alleine. Vor ihm treibt ein Mensch leblos den Kanal hinab. Trotz der Dämmerung kann er die Arme und Beine klar erkennen. Er rennt zum Ufer, ruft rüber. Keine Reaktion. Kurz vor der Brücke an der Sutumerstraße wird der Körper angespült. Erst jetzt sieht er, dass es sich bei der Person um einen Mann handelt. Der Wärter greift ihn und hievt ihn an Land. Aber das hier überbietet die Sperre noch einmal. Er schüttelt den Mann an den Schultern. Er betet, dass er die Augen aufmacht. Die Woche hatte doch schon so schlimm angefangen. Der Westdeutsche Spielverband hatte Anfang der Woche die gesamte erste Mannschaft des FC Schalke 04 gesperrt. Selbst die größten Stars des Schalker Kreisels wurden nicht verschont.
Die Wochen und Monate vor diesem Donnerstag haben an allen Schalker Nerven gezerrt. Der Westdeutsche Spielverband hatte den FC Schalke angeklagt. Der Verein soll der Mannschaft heimlich nach Spielen viel Geld gezahlt haben. 10 Mark pro Spieler. Dabei sind offiziell nur 5 Mark erlaubt. Denn nur Amateure dürfen in Deutschland an Wettbewerben teilnehmen. Schalke wird vorgeworfen, Berufsspieler aufs Feld zu schicken. Die Menschen am Schalker Markt sind fassungslos. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die anderen Vereine ihren Spielern auch mehr zahlen, als erlaubt ist. Und zum Leben reicht das Geld auch nicht, dass der Fußball abwirft. Die Jungs arbeiten schließlich alle. Ernst Kuzorra und Fritz Szepan zum Beispiel in ihren Tabakläden, Walter Badorek als Bergmann auf Zeche Consolidation oder Valentin Przybylski als Lagerist. Die Schalker ahnen, worum es eigentlich geht: Der “Proleten- und Polackenclub”, der seit ein paar Jahren die Wettbewerbe aufmischt, soll aus dem Verkehr gezogen werden.
Nach mehreren Anhörungen von Schalker Spielern und Funktionären verkündet der Westdeutsche Spielverband am Montag, den 25. August 1930, sein Urteil: Die komplette erste Mannschaft sowie acht Funktionäre des FC Schalke-Gelsenkirchen 04 werden lebenslang gesperrt. Der amtierende Westdeutsche Meister wird jäh gestoppt. Die Härte des Urteils entsetzt die Menschen. Warum Schalke? Warum ist der Verband nur beim Verein aus dem Industriebezirk unerbittlich? Die bürgerlichen Lackschuhvereine zahlen ihren Spielern doch mindestens genauso viel Geld. Die Stimmung am Schalker Markt ist am Nullpunkt. Der Verein kratzt für die kommende Saison eine Notelf zusammen. Die Spieler vom Schalker Kreisel dürfen nicht mehr eingreifen. Nachdem sie in den letzten Jahren von Erfolg zu Erfolg jagten und ihre Gegner mit Finesse in Grund und Boden spielten, sind sie jetzt zum Zuschauen von der Seitenlinie verdammt. Dunkle Wolken ziehen über Schalke auf, und der Schleusenwärter drei Tage nach dem Urteil einen Toten aus dem Kanal.
Der Schleusenwärter findet eine Brieftasche beim Toten. Mit zitternden Händen holt er verschiedene Papiere und Briefe hervor. Der Großteil ist auf einen Namen adressiert oder ausgestellt: Fritz Szepan. Die Gedanken des Wärters überschlagen sich. Hat er hier gerade den Schalker Stürmer leblos aus dem Wasser gezogen? Er rennt die Böschung hoch zum Polizeirevier an der Sutumerstraße. Er muss Hilfe holen. Einer der Beamten erkennt den Toten. Es ist nicht Szepan. Der Mann, der da vor ihnen im Gras liegt, heißt Wilhelm Nier. Er ist Vorsitzender der Finanzkommission des FC Schalke 04, einer der vom WSV gesperrten Funktionäre. Als die Feuerwehr eintrifft, um Wilhelm Nier abzuholen, sind nur wenig Menschen vor Ort. Trotzdem verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: Sie haben Willi aus dem Kanal gezogen, keine drei Tage nach dem Urteil. Das kann kein Zufall sein. Am nächsten Tag steht Willi Niers Tod in allen Zeitungen. Der Mann, der den kometenhaften Aufstieg des FC Schalke als Finanzobmann begleitet hat, ist nicht mehr.
Früh hat Nier erkannt, wie wichtig ein eigenes Stadion für den Verein ist. Schon 1926 ist Schalke 04 für sein schönes Spiel über die Grenzen Gelsenkirchens hinaus bekannt. Jedes Wochenende strömen Menschen aus dem gesamten Ruhrgebiet zu den Heimspielen der Knappen. Bei hochkarätigen Gegnern erscheinen bis zu 40.000 Fans. Zu viele für den Platz an der Grenzstraße. Oft müssen die Knappen auf größere Plätze in der Nachbarschaft ausweichen. Nier sieht aber nicht nur den fehlenden Platz: Er sieht auch die Eintrittsgelder, die der Verein einnehmen könnte. Gemeinsam mit Fritz Unkel überzeugt er die Mitglieder 1927: Schalke braucht sein eigenes Stadion. Ein Stadion, wie es im Ruhrgebiet kein zweites gibt. Allerdings wird der Bau 200.000 Mark kosten, eine riesige Summe. Nur Willi Nier und seinem Finanzgeschick ist es zu verdanken, dass das Stadion gebaut werden kann. 1928 weihen die Schalker ihre Kampfbahn Glückauf ein, eine der größten vereinseigenen Sportanlagen Europas. 34.000 Zuschauer passen hier rein. Und sie liegt direkt am Bahnhof Schalke-Nord.
Und jetzt liegt einer der Väter der Kampfbahn Glückauf tot am Ufer des Kanals. Schnell machen sich Polizei und die Reporter der lokalen Presse daran, den letzten Tag von Willi Nier zu rekonstruieren. Den Abend des Mittwochs, 27. August, verbringt er zunächst im Haus Thiemeyer am Schalker Markt. Auf die anwesenden Gäste wirkt Nier niedergeschlagen. Der sonst so lebensfrohe Mann gibt nur knappe Antworten. Schließlich verlässt er das Haus Thiemeyer. Er besucht den zweiten Vorsitzenden des Vereins für eine Unterredung. Anschließend wird er auf dem Schalker Markt im Gespräch mit seiner Frau gesehen. Danach läuft er Richtung Oststraße, vermutlich um auf der Ecke Zigarren zu kaufen. Es ist vielleicht 19.30 Uhr. Danach verliert sich Niers Spur zwischen den Wohnhäusern und den Industrieanlagen. Auf welchem Weg er zum Kanal gelangt und an welcher Stelle er seinen finalen Entschluss fasst, ist unbekannt. Vielleicht ist er noch einmal die Kaiser-Wilhelm-Straße hochgelaufen, um ein letztes Mal “seine” Kampfbahn Glückauf zu sehen.
Am Donnerstagvormittag versammelt sich die Schalker Familie im Haus Thiemeyer, ihrer Zentrale. Ihnen ist der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Mitglieder, Funktionäre und Spieler sitzen an den Tischen und starren vor sich hin. Willi ist nicht mehr unter ihnen. Er, der sich immer für den Verein eingesetzt hat. Dabei sollte es doch jetzt erst richtig losgehen. Das neue Stadion und die erste Westdeutsche Meisterschaft sollten erst der Anfang sein. In diesem Jahr beginnt der Bau einer neuen Empfangshalle für den Bahnhof Schalke-Nord. Dann können die Schalker Fans von außerhalb noch bequemer zu den Heimspielen des Schalker Kreisels anreisen. Aber nichts ist mehr sicher. Können die Reservespieler überhaupt die Klasse halten? Wird der Verein jemals wieder solche Ausnahmetalente finden, wie Kuzorra und Szepan sie waren? Und wenn der Schalker Kreisel nicht mehr ist: Braucht man dann überhaupt dieses riesige Stadion? Die Zukunft sieht düster aus. Aber jetzt müssen sie sich um Willi kümmern. Er soll mit einer großen Trauerfeier in seiner Kampfbahn verabschiedet werden. Auf Vereinskosten.
Am Sonntag, den 31. August, findet Willi Nier auf dem Friedhof Rosenhügel seine letzte Ruhe. Die kommenden Wochen und Monate bleiben aber weiter turbulent. In Europa spricht sich schnell rum, dass die Spieler des Schalker Kreisels ohne Verein sind. Ernst Kuzorra und Fritz Szepan erhalten beide ein Angebot aus Wien. In Österreich ist es nicht verboten, professionell Fußball zu spielen. Jeder von ihnen soll bei Admira Wien 1.000 Mark pro Monat erhalten. Irgendwie müssen sie ihre Familien ernähren. Sie unterschreiben. Alles scheint auseinander zu bröckeln. Aber auch der Westdeutsche Spielverband steht unter Druck. Die Öffentlichkeit kritisiert das Urteil immer lauter. Als sich abzeichnet, dass der Verband die Sperren bald aufheben wird, lösen Kuzorra und Szepan die Verträge mit Wien wieder auf. Wenn sie es sich aussuchen können, spielen sie für Schalke. Im Sommer sieht die Welt wieder anders aus. Die Reservemannschaft hat die Klasse gehalten und der Verband hat die Sperren wieder aufgehoben. Am 1. Juni 1931 spielt der Schalker Kreisel zum ersten Mal wieder in der Kampfbahn Glückauf in Originalbesetzung. Die Spieler treten zu einem Freundschaftsspiel gegen Fortuna Düsseldorf an. 70.000 Menschen strömen an diesem Montag zur Kampfbahn Glückauf. Dabei ist sie nur auf 34.000 ausgelegt.
Der Eklat um die Spesenzahlungen ist weder der einzige noch der letzte Skandal, in den der FC Schalke 04 verwickelt ist. 1993 bahnt sich etwa ein Finanzskandal auf Schalke an: Der damalige Präsident Günter Eichberg hat einen riesigen Schuldenberg angehäuft. Wie groß der Berg tatsächlich ist, versucht er zu verschleiern. Nach Eichbergs Abgang kann der Verein den drohenden Lizenzentzug und Zwangsabstieg abwenden. In den 1970er-Jahren geht es auch um Geldzahlungen. 1971 verlieren die Königsblauen am 28. Spieltag zu Hause in der Kampfbahn Glückauf überraschend gegen den Abstiegskandidaten Arminia Bielefeld. Später stellt ein DFB-Sportgericht fest: Die Niederlage war gekauft. Jeder eingesetzte Schalker bekam nach Abpfiff 2.300 Mark bar auf die Hand. In den berüchtigten Bundesliga-Skandal ist die halbe Liga verwickelt. Der DFB bestraft rund 50 Spieler, darunter 13 Schalker. Damals dürfen Vereine ihren Spielern höchstens 1.200 Mark pro Monat zahlen. Erst 1972 werden die Regelungen zur Deckelung der Gehälter aufgehoben.
Bildquellen: FC Schalke 04, Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen